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Beitrag vom 23.09.2024
Gaëlle Nohant: All die gestohlenen Erinnerungen
Sharon Adler
Siebzehn Millionen Registerkarten, ein Medaillon und eine Nummer auf einem Stoffpierrot. Der mit dem Grand Prix RTL-Lire 2023 Literaturpreis ausgezeichnete Roman aus Frankreich beschäftigt sich mit der Suche nach Überlebenden und Verschollenen wie auch deren Nachkommen und dem Versuch einer Rückgabe aus dem persönlichen Besitz der NS-Opfer durch die Arolsen Archives in Deutschland. AVIVA-Berlin verlost 2 Bücher
Verzerrte Wahrnehmung
Laut einer Studie der Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference), die wenige Tage vor dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz veröffentlicht wurde, glauben 23% der befragten jungen Französinnen und Franzosen, der Holocaust sei ein "Mythos" oder würde als "übertrieben" dargestellt. Auch in Deutschland ist das Wissen der Jugendlichen im Kontext der NS-Geschichte erschreckend marginal. Mit Blick auf die Beteiligung der Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus glauben, so die Ergebnisse der MEMO-Jugendstudie 2023 der Universität Bielefeld und der Stiftung EVZ, die allerwenigsten der Generation Z, dass die NS-Verbrechen auch Teil ihrer eigenen Familiengeschichte gewesen sein könnten. Im Gegenteil. 32,1 % sind der Ansicht, ihre Vorfahren hätten Widerstand geleistet und den potentiellen Opfern geholfen.
Weit weniger ein Thema ist die Vorstellung davon, dass ihre Verwandten unter denen waren, die sich am Hab und Gut der Deportierten bereichert und eilig zugegriffen haben, als es vor aller Augen auf öffentlichen Auktionen feilgeboten wurde. 55,7 % der Befragten verneinen die Frage danach, ob eigene Familienangehörige von den Entwicklungen während der Zeit des Nationalsozialismus profitiert haben. Nur 1% bezeichnet seine Vorfahren als Profiteur:innen.
Ein Großteil – Dinge des täglichen Gebrauchs, vom Löffel bis zum Tischtuch – befindet sich seitdem in Privathaushalten oder Antiquitätenläden. Europaweit. Die Provenienz dieser Dinge zurückzuverfolgen ist ein beinahe unmögliches Unterfangen. Etwas erfolgversprechender kann eine Recherche zu den 4700 Effekten sein, die seit 1963 in den Arolsen Archives eingelagert sind. Es sind die letzten persönlichen Besitztümer von Menschen aus über 30 Ländern, die sie bei ihrer Verschleppung bei sich hatten. Bei ihrer Ankunft in den Vernichtungslagern wurden sie gezwungen, sie dem Lagerpersonal abzugeben, bevor sie zur Zwangsarbeit eingeteilt oder sofort ermordet wurden.
Zerstörte Leben. Geraubter Besitz. Schwierige Spurensuche
Die Arolsen Archives in Nordhessen, das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus, 1948 von den Alliierten als International Tracing Service (ITS) gegründet, bewahren heute noch über 2.000 Umschläge mit persönlichen Dingen von ehemaligen KZ-Häftlingen überwiegend aus Neuengamme und Dachau auf, darunter Brillen, Füllfederhalter, Uhren, Briefe und Fotos. Eheringe. Dinge, die für die entrechteten Menschen die letzte Verbindung mit ihren Liebsten und mit dem Leben vor der Deportation war. Dinge, die meist keinen großen monetären, wohl aber einen hohen emotionalen Erinnerungswert darstellten.
Die Rückgabe der Effekten ist das Ziel der Institution, die aktuell beinahe knapp 1000 Effekten weltweit zurückgeben konnte. 2023 wurden sogar vier Familien von Halbgeschwistern zusammengeführt.
Um dafür zu sensibilisieren, rief sie 2016 die Kampagne #StolenMemory ins Leben. Aktuell touren vier umgestaltete Überseecontainer durch Deutschland, Polen und Frankreich, die als mobile Ausstellungsorte fungieren. Flankiert durch eine Website, eine App sowie pädagogische Bildungsmaterialien lädt das Arolsen Archive Freiwillige ein, sich an der Suche nach den Familien der Opfer zu beteiligen.
Verschlungene Wege: "Man muss wissen, wonach man sucht, und bereit sein zu finden, wonach man nicht suchte."
Mit dem Thema beschäftigt sich die 1973 in Paris geborene Schriftstellerin Gaëlle Nohant in ihrem Roman "All die gestohlenen Erinnerungen", erschienen 2023 unter dem französischen Originaltitel: "Le bureau d´éclaircissement des destins".
Durch einen Zufall stößt sie auf die Kampagne der Arolsen Archives und ist elektrisiert. Über drei Jahre führt sie ihre Arbeit an dem Buch über eine Fülle von Archivmaterial tief in die Geschichten der Opferfamilien.
Im Zentrum des Romans steht die französische Archivarin Irène, die beim ITS arbeitet. 2016 wird sie damit beauftragt, Gegenstände, die einst Deportierten gehört haben, an die Nachkommen ihrer Besitzer:innen zurückgeben. Darunter ist eine Puppe, ein Pierrot. Über eine Nummer in seiner Kleidung stößt Irène über viele Umwege, Rätsel und Sackgassen, auf den 15-jährigen Lazar, der Buchenwald überlebte, dessen Spur sich aber in Griechenland verliert. Es beginnt eine Suche, die sie immer tiefer in seine Biografie führt. Eine emotionale Suche über das Aufspüren von Orten und Menschen.
"Ich weiß gar nichts. Ich habe nichts als diese große Lücke vor mir."
Das ist das verbindende Glied der unzähligen Briefe, die das ITS aus aller Welt erreichen. Die verzweifelte Bitte um Hilfe von Antragstellenden bei ihrer Suche nach dem Schicksal ihrer Angehörigen ist es, was Irène in ihrer akribischen Recherche antreibt.
Die von Gaëlle Nohant fiktiv angelegten Handlungen und Figuren basieren auf historischen Tatsachen: "Ich habe zweihundert Bücher und Zeugenberichte gelesen, Dutzende von Dokumentationen gesehen und zahlreiche Artikel und Archive durchsucht, um die Figuren und Schicksale in diesem Buch zu entwickeln."
Dabei webt sie nicht nur die Methoden ihrer Recherche, die persönlichen Herausforderungen in ihrer Arbeit, die Suche im Dunkeln, die häufig zu keinem Ergebnis führt und dennoch viel Leid zutage treten lässt, sondern auch die Abwehrhaltung ihres Exmanns und seiner Eltern, die damit stellvertretend für viele nichtjüdische Deutsche steht: Die "Es muss doch mal Schluss sein"-Haltung, die "Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen"-Haltung.
Geschrieben hat Gaëlle Nohant ihren Roman besonders für die jungen Leser:innen: "Dass sie sich von dem Buch angesprochen fühlen, freut mich sehr und erfüllt mich mit Hoffnung."
Zur Autorin: Gaëlle Nohant wurde 1973 in Paris geboren und lebt und arbeitet heute in Lyon. Ihr Roman "All die gestohlenen Erinnerungen" wurde 2023 mit dem Grand Prix RTL-Lire, einem der renommiertesten Literaturpreise Frankreichs, ausgezeichnet und 2024 den literarischen Publikumspreis Prix PREMIERE nominiert.
AVIVA-Tipp: Eine berührende Geschichte um verlorene und zerstörte Leben, um Ausraubung und Entrechtung, die bis heute, in die Dritte Generation nachwirkt.
Gaëlle Nohant
All die gestohlenen Erinnerungen
Originaltitel: Le Bureau d´éclaircissement des destins
Ãœbersetzung Alexandra Baisch
Piper Verlag, München, 29. August 2024
432 S., 24 €.
Mehr zum Buch unter: www.piper.de
Weitere Informationen zur Wanderausstellung #StolenMemory
arolsen-archives.org
AVIVA-Berlin verlost 2 Bücher. Bitte senden Sie uns dazu bis zum 30.12.2024 eine Email an: info@aviva-berlin.de
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